«Wer privat in die Infrastruktur investiert, will Gewinne machen.»

Nicholas Hildyard engagiert sich für ökologische und ­soziale Gerechtigkeit. Die Finanzierung von Mega-Infrastruktur findet er zutiefst undemokratisch. Kerstin Kloss wollte von dem Briten wissen, was er genau kritisiert.

Ihr Buch «Lizenzierter Diebstahl» zu lesen, ist wie eine neue Sprache zu lernen. Sie «übersetzen» Infrastruktur in finanzielle Aspekte von Cashflow und Rendite. Haben Sie ein leicht verständliches Beispiel, das Ihre These illustriert?

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Ja, eine Übersetzung ist in der Tat notwendig. Unter Infrastruktur versteht man in der Regel Straßen, Eisenbahnen, Kanäle, Flughäfen, Kraftwerke, Krankenhäuser und Schulen. Aber für den Finanzbereich hat Infrastruktur eine andere Bedeutung. Für Finanziers ist eine Ölpipeline zum Beispiel keine Infrastruktur, wenn sie nicht mit einem stabilen, vertraglich vereinbarten Einkommensstrom verbunden ist. Selbst eine Straße ist nur Infrastruktur, wenn es eine Mautstraße ist, für deren Nutzung Sie bezahlen müssen. Und ein Krankenhaus ist nur dann eine Infrastruktur, wenn es in ein Patienten-Förderband verwandelt wurde. Die Kasse muss immer klingeln. Was finanziert wird, ist nicht die Infrastruktur, sondern das sind die öffentlich garantierten Einkommensströme. Das ist privater Profit auf öffentliche Kosten.

Sie sprechen von «Finanzialisierung» der Infrastruktur und meinen damit die zunehmende Bedeutung des Finanzsektors. Welche Unternehmen sind die Haupttreiber?

Es gibt eine Reihe von Institutionen, die die Finanzialisierung der Infrastruktur vorangetrieben haben. Die Weltbank und andere internationale Entwicklungsbanken stehen an vorderster Front, ebenso wie bilaterale Hilfsorganisationen, die Private-Equity-Branche und Hedgefonds.

Ist die Finanzialisierung der Infrastruktur eine «westliche» Idee oder springen China und andere Schwellenländer auf diesen Zug auf?

Ich denke nicht, dass es hilfreich ist, von einer «westlichen» oder «nicht-westlichen» Idee zu sprechen. Finanzialisierung ist eine «Lösung» für eine Reihe von Problemen, mit denen das Kapital heute konfrontiert ist. Und das umfasst das Kapital weltweit. Das Problem sind fehlende Mittel für den Aufbau der Infrastruktur, vor allem für die sogenannten Infrastrukturkorridore, um Just-in-time-Lieferketten zu bedienen. Diese Korridore bestehen aus umfangreichen Netzen von Eisenbahnen, Straßen, Häfen, Flughäfen und Logistik-Hubs. Ein Treiber für ihren Bau sind die Skaleneffekte, die erforderlich sind, um die Rohstoffe abzubauen.

Skaleneffekte, also Kostenvorteile, die einem Unternehmen durch entsprechend niedrige oder sinkende Kosten pro hergestelltem Produkt entstehen.

Ja. Entfernte Rohstoffquellen sind erst dadurch wirtschaftlich nutzbar geworden, dass größere, leistungsfähigere und effizientere Schiffe, Lkw, Züge, Binnenschiffe und Frachtflugzeuge die Transportkosten gesenkt haben. Aber sie benötigen auch breitere Straßen, größere Brücken, tiefere und breitere Kanäle, geradlinigere Flüsse und längere Start- und Landebahnen.

All das ist nötig, damit globale Lieferketten rund laufen.

Ja, globale Lieferketten haben große Entfernungen zwischen Produktionsstätten und Verbrauchsstätten geschaffen. Die Mineralien, die beispielsweise zur Herstellung von Computerkomponenten verwendet werden, werden in der ganzen Welt abgebaut. Aber die globalen Verbraucherinnen und Verbraucher mit dem Geld für den Kauf des Computers leben weit weg von den Abbau- und Verarbeitungsgebieten. All das muss finanziert werden, und eine extreme Infrastruktur erfordert eine extreme Finanzierung. Die Unternehmensberatung McKinsey schätzt, dass bis 2030 weltweit 57 ­Billionen Dollar ausgegeben werden müssen.

Woher soll das Geld kommen?

Weder einzelne Regierungen noch die multilateralen Entwicklungsbanken haben das Geld. Auch nicht China, die USA oder die EU. Das Kapital hat nur wenige Möglichkeiten, um den Finanzierungs-Pool zu erweitern, auf den es zurückgreifen kann. Insbesondere muss die Infrastruktur in eine «Anlageklasse» umgewandelt werden, um sie für private Investoren attraktiver zu machen. Aber wie schon gesagt, sind private Investoren nicht an einer Infrastruktur interessiert, die keine Gewinne abwirft. Daher der Vorstoß für Öffentlich-Private Partnerschaften (ÖPP), die für jeden der vorgeschlagenen Korridore von zentraler Bedeutung sind und einen Strauß an Garantien erhalten.

Welche Garantien enthalten ÖPP-Projekte?

Die ÖPP-Garantien umfassen nicht nur Gewinne von typischerweise 15 bis 20 Prozent sowie Schuldentilgungen. Wenn das Verkehrsaufkommen auf einer Mautstraße geringer ist als erwartet, kompensiert der Staat etwaige Einnahmeausfälle. Die ÖPP wird auch dann bezahlt, wenn eine Anlage nicht genutzt wird. Die privaten Investoren streichen den Löwenanteil der Gewinne ein, während der öffentliche Sektor das gesamte Risiko übernimmt.

Und wer profitiert am meisten?

Die am offensichtlichsten Begünstigten sind die Aktionäre der Fonds, die in «Infrastruktur als Einnahmenstrom» investieren. Also weltweit die ohnehin schon Reichen. Die Richtung ist zutiefst

undemokratisch, elitär und instabil. Undemokratisch, weil eine Handvoll Fondsmanager zunehmend bestimmt, was finanziert wird und was nicht. Elitär, weil die Einrichtungen, die den Armen am meisten nutzen würden, nicht gebaut werden. Und instabil, weil die Infrastruktur als Anlageklasse eine Blase ist, die platzen wird.

Wäre es ein faires Geschäft, wenn die arbeitenden Menschen im Norden über ihre Pensionsfonds zur Finanzierung wichtiger Infrastrukturen im Süden beitragen und davon für ihren Ruhestand profitieren würden?

Zwei Dinge bereiten mir Sorge. Erstens wird die Finanzinfrastruktur den arbeitenden Menschen im Norden nicht mehr nutzen, als den Werktätigen im Süden. Bei den weltweit im Bau befindlichen Infrastrukturkorridoren geht es beispielsweise nicht nur darum, Waren schneller zu bewegen. Es geht auch darum, die Arbeitskräfte in jeder Phase des Produktionsprozesses auszuquetschen, einschließlich der Arbeitskräfte im Norden. Lagerhäuser dienen nicht mehr in erster Linie der Lagerung von Waren, sondern als Distributionszentren. Die Mitarbeiter übernehmen Jobs aus dem Fertigungssektor und verarbeiten Teile, übernehmen die Qualitätskontrolle, individuelle Anpassungen und verpacken. Und diese Jobs sind schlecht bezahlte vorübergehende Just-in-time-Beschäftigungen. Warum sollten die Arbeitnehmer ihre Renten in etwas investieren wollen, das ihre eigene Lebensgrundlage weltweit untergräbt?

Und Ihre zweite Sorge?

Investitionen in Infrastruktur sind bekanntermaßen riskant. Infrastruktur lockt scharenweise Investoren, die überzeugt sind, damit höhere Renditen zu erzielen als mit anderen Anlageklassen. Allein im Vereinigten Königreich weisen die Altersversorgungssysteme jetzt ein Defizit von 367,5 Milliarden Pfund auf. Das führt dazu, dass viele zu risikoreichen alternativen Anlagen greifen. Und in den USA zeigt eine Studie des Wirtschaftswissenschaftlers Dean Baker vom Centre for Economic and Policy Research in Washington, D.C., dass risikoreiche Anlagen durch Fondsmanager die Arbeitnehmer im öffentlichen Sektor heute um rund 850 Milliarden Dollar ärmer gemacht haben. Ihre Renten wurden in Aktien investiert und sind hypothekenbesicherten Wertpapieren ausgesetzt, anstatt sie in sichereren Staatsanleihen anzulegen. Das Geschäftsmodell von Pensionsfonds-Investitionen in Private-Equity-Fonds basiert oft darauf, Arbeitskräfte auszupressen, um die Rendite zu steigern. Das gefährdet auch die Interessen der Arbeitnehmer und untergräbt ­deren Solidarität.

Haben wohlhabendere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen denn gar keine Möglichkeiten, damit ihre Pensionsfonds ärmeren Menschen im Süden zugutekommen?

Doch, durchaus. Aber wenn dies geschehen soll, müssen die Investitionen über andere Instrumente als die, die von der Weltbank und anderen aufgebaut werden, geleitet werden. Ich denke hier an die Bemühungen der Gewerkschaften in Afrika und anderswo, direkt in kleine, von Gemeinden gesteuerte Solar- und Windenergie-Anlagen zu investieren.

Sie kritisieren die ÖPP-Finanzierung von Infrastruktur. Aber was ist mit den vielen armen Ländern, zum Beispiel in ­Afrika, wo die Bevölkerung dringend eine bessere Infrastruktur braucht?

Ärmere Menschen in ärmeren Ländern brauchen sicherlich eine bessere Infrastruktur in der ursprünglichen Wortbedeutung wie Krankenhäuser auf dem Land oder Straßen, die Dörfer mit Märkten verbinden. Aber das ist nicht die Art von Investitionen, mit denen sich typischerweise Investoren gewinnen lassen. Schlimmer noch, ÖPP-Projekte können sogar die unzureichenden Dienstleistungen, die ärmeren Menschen zur Verfügung stehen, gefährden. In Lesotho zum Beispiel verbraucht das durch ÖPP finanzierte Queen Mamohato Memorial Hospital mindestens 35 Prozent des Gesundheitsbudgets der Regierung. Mehr als das alte Krankenhaus, das durch das ÖPP-Projekt ersetzt wurde.

Was schlagen Sie für Länder vor, in denen der öffentliche Sektor selbst nicht in der Lage ist, die Basisinfrastruktur bereitzustellen?

In vielen Ländern hat es der öffentliche Sektor in der Tat versäumt, eine Basisinfrastruktur zu schaffen, die den Menschen wirklich dient. Aber in vielen Fällen gilt das auch für den Privatsektor. Ein Bericht der Weltbank-eigenen Internal Evaluation Group (IEG) von 2014 fand wenig Belege für die Behauptung, dass ÖPP-Projekte die operative Leistungsfähigkeit verbessern. Die IEG konnte nicht beurteilen, inwieweit ÖPP den Armen zugutekamen, weil große Datenlücken bestehen. Angesichts des Mandats der Bank zur ­Armutsbekämpfung ist das unglaublich. Die Antwort auf eine schlecht funktionierende öffentlich finanzierte Infrastruktur besteht also darin, den Privatsektor als Alternative zu betrachten. Das ist er aber nicht. Es geht darum, demokratische Bewegungen zu stärken, um öffentlich finanzierte Projekte zu verbessern. Sie müssen mehr Verantwortung dafür tragen, dass die Bedürfnisse aller, anstatt nur ­weniger, erfüllt werden.

Sie kritisieren, dass eine «globale Infrastruktur-Agenda» das Ziel verfolge, Mega-Korridore zu schaffen. Wie sehen solche Mega-Korridore aus?

Die Korridore sind nicht nur Verkehrskorridore. Ziel ist es, damit neue industrielle Cluster zu schaffen. In Indien werden mehrere Projekte durchgeführt, um die Kapazität der zwölf großen Häfen des Landes zu erhöhen. Deren Eisenerz- und Kohle-Umschlag wird im Laufe des nächsten Jahrzehnts voraussichtlich um 146 Prozent beziehungsweise 225 Prozent steigen. Außerdem werden fünf Industrie-Entwicklungskorridore entwickelt, jeweils mit Smart ­Cities an Knotenpunkten und zentralen Industriezentren. Die Korridore werden in Freihandelszonen umgewandelt. Anstoß für diese ­Korridore ist der bewusste Versuch, die Wirtschaftsgeographie neu zu gestalten. Der Plan sieht vor, spezifische Wirtschaftsaktivitäten auf bestimmte Korridore zu konzentrieren, um billige Arbeitskräfte, Verbraucher und Investitionen zugunsten des Kapitals anzuhäufen. Das bedeutet eine massenhafte Zwangsmigration, weil sich Märkte und Beschäftigungsmöglichkeiten zunehmend auf Städte und ihre Verbindungskorridore konzentrieren.

Was ist das wirtschaftliche und ökologische Problem dieser Mega-Korridore?

Meine Sorge ist, dass die geplanten Korridore einen Schritt in Richtung noch extremerer Infrastrukturformen mit schwerwiegenden Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft bedeuten. Extrem nicht nur wegen des Umfangs der geplanten Infrastruktur. Dazu gehören zum Beispiel Straßen, Eisenbahnen, Wasserleitungen, Häfen, Pipelines und Industriegebiete. Extrem auch wegen der Umweltzerstörung, die dadurch verursacht wird. Durch die Mega-Korridore können und müssen Öl- und Mineralvorkommen noch extremer erschlossen werden – und das bedeutet mehr abgeholzte Wälder, mehr verschmutzte Flüsse und so weiter. Und die Korridore basieren, wie gesagt, auf einer noch extremeren Produktion, die es dem Kapital ermöglicht, dorthin zu gelangen, wo die Arbeitskräfte am billigsten sind. Mega-Korridore sind auf noch extremere Finanzierungen ­angewiesen, insbesondere auf neue, hochriskante Anlageklassen.

Theoretisch könnte die Weltbank ihr Profil schärfen und sich zur Nachhaltigkeit bekennen. Ist ein Szenario vorstellbar, wie sie sich von einem «bad guy» zu einem «good guy» entwickeln könnte?

Meiner Meinung nach gibt es keine Aussicht darauf, dass sich die Weltbank radikal in eine auf die Menschen anstatt auf das Kapital ausgerichtete Institution verwandelt. Nehmen wir die Auswirkungen der Korridore auf die Arbeitswelt. Der Druck auf die Löhne und die Arbeitsteilung nimmt zu, Beschäftigungsverhältnisse werden unsicherer, Arbeitskräfte werden immer mehr von Entscheidungsprozessen ausgegrenzt. Diese Ausbeutung von Arbeitskräften ist keine unbeabsichtigte Folge, die durch Safeguard Policies der Weltbank «eingerenkt» werden kann. Es ist billiger, vor Schottland gefangenen Kabeljau von Arbeitern in China filetieren zu lassen und ihn dann zum Verkauf zurück nach Schottland zu verschicken, als die Arbeit direkt in Schottland erledigen zu lassen.

In Deutschland gehört die in weiten Teilen veraltete und unzureichende Straßen- und Schieneninfrastruktur dem Staat. Welches Finanzierungsmodell würden Sie für die Instandhaltung und den Ausbau vorschlagen?

Die Frage impliziert, dass der öffentliche Besitz des Schienen- und Straßennetzes das Problem ist. Aber private Unternehmen können genauso ineffizient sein wie öffentliche. Noch verwirrender wird es, weil die Grenzen zwischen öffentlich und privat zunehmend verschwimmen. So ist beispielsweise die Deutsche Bahn (DB) ein bedeutender Anteilseigner bei einer der ineffizienten und verspäteten privatisierten Eisenbahnen Großbritanniens.

2018 erzielte Arriva, die britische DB-Tochter für den Personenverkehr, einen Umsatz von 5,44 Milliarden Euro und gilt als hochprofitabel. Derzeit bereitet die DB den Verkauf von Arriva vor.

Das ist richtig. Die DB mag sich in staatlichem Besitz befinden, aber soll Gewinne erzielen – und zwar große. Um auf Ihre Frage nach der Infrastruktur in Deutschland zurückzukommen: Wenn an den Mängeln das gewinnmaximierende Geschäftsmodell schuld ist, dann liegt die Antwort darin, das Geschäftsmodell so zu ändern, dass an erster Stelle die Bedürfnisse der Öffentlichkeit bedient werden. Wenn zu wenig in lokale Services und Straßen investiert wird, stattdessen in EU-Korridore, dann muss neu priorisiert werden. Und wenn Geldmangel das Problem ist, dann können höhere Steuern die Lösung sein.

Sie kritisieren «finanzielles Absaugen» durch Infrastruktur-projekte. Welche Gegenmaßnahme schlagen Sie vor, um das zu verhindern?

Das finanzielle Absaugen ist Teil der DNA des Infrastruktur-Anlageklassen-Modells. Es mag einige Pflaster für die Wunden geben, aber das Absaugen wird so lange fortgesetzt, wie das Modell fortbesteht. Ein erster Schritt ist, zu erkennen, dass das Modell komplett falsch ist, und keine Zeit mit dem Versuch zu verlieren, es zu ­reformieren. Aktivisten versuchen, Infrastruktur als Anlageklasse in Frage zu stellen und verweisen dabei auf eine Reihe von ÖPP-Säulen, die sie ablehnen. Beispiele sind Privatisierung, Landnahme, Rentenein­bußen, Zwangsräumungen, Unternehmenssubventionen und Arbeitskräfte-Ausbeutung.


Nicholas Hildyard arbeitet seit über 43 Jahren für The Corner House, eine Solidaritätsorganisation und Forschungs­gruppe in der südwestenglischen Grafschaft Dorset. Die gemeinnützige Gesellschaft unterstützt demokratische und gemeinschaftliche Bewegungen für ökologische und soziale Gerechtigkeit. Hildyard ist Autor von «Licensed larceny: Infrastructure, financial extraction and the global South», erschienen 2016 bei Manchester University Press.

Kerstin Kloss arbeitet als freie Journalistin in Hamburg.

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